Der syrische Exil-Schriftsteller und diesjährige „Sprachsalz“-Gast Nouri Al-Jarrah sprach mit der TT über sein vom Bürgerkrieg ausgezehrtes Heimatland, das Versagen des Westens und die aufrüttelnde Kraft der Bilder.
Hall — Nouri Al-Jarrah, geboren 1956 in Damaskus, zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Dichtern des arabischen Sprachraums. Seit 1980 lebt er im Exil — und gilt als kritischer Beobachter seiner syrischen Heimat. In den kommenden Tagen ist Al-Jarrah Gast des Haller Literaturfestivals „Sprachsalz“. Im Rahmen des Festivals kommt heute Abend, 19 Uhr, im Kurhaus auch das von der Akademie St. Blasius und den Klangspuren Schwaz beim Komponisten Hannes Kerschbaumer in Auftrag gegebene Konzertwerk „Stele.Blut“, das auf Texten Al-Jarrahs basiert, zur Uraufführung.
Hannes Kerschbaumer hat für „Stele.Blut“ einen Auszug aus dem Gedicht „Die sieben Tage der Zeit“ sowie Texte ihres Sohnes Rami zur Grundlage genommen. Geben Sie Ihre Arbeiten für solche Experimente gern aus der Hand?
Nouri Al-Jarrah: Ich bin gespannt, wie er meine Worte zu den seinen macht. Das lässt sich vielleicht mit Übersetzungen vergleichen: Wer ein Gedicht in eine andere Sprache trägt, baut ja auch nicht einfach nach, sondern schafft etwas Neues. Die Bedeutung der einzelnen Worte mag die gleiche bleiben, aber es öffnen sich neue Türen. In dieser Veränderung liegt das Wesen aller Kunst. Ich schrieb diese Zeilen in einer besonderen Zeit, am Beginn des Bürgerkrieges in Syrien, ich wollte meinen Schmerz erfahrbar machen. Wenn ich sie heute lese, sind mein Schmerz und der Zorn über die Situation gewachsen. Kein Wort des Gedichtes hat sich geändert, aber die Bedeutung ist eine andere geworden.
Kerschbaumer kombiniert das Gedicht mit Facebook-Einträgen Ihres Sohnes, der zu einem der Sprachrohre des syrischen Widerstandes gegen Machthaber Baschar al-Assad wurde. Er beschreibt Syrien als Land ohne Vergangenheit und Zukunft, als immer gegenwärtige Katastrophe.
Al-Jarrah: Anders lässt sich die Situation des Landes nicht beschreiben. Es ist eine Tragödie. Es gibt kein Syrien mehr. Das Land ist nach gut vier Jahren Krieg zerstört, Hunderttausende wurden getötet, Millionen Syrer sind auf der Flucht. Ein Massaker, bei dem der Westen, die ganzen Supermächte, zugeschaut haben. Als die Revolution gegen Assad begann, sah der Westen zu. Als Assad auf die Demonstranten schießen ließ, sah der Westen zu. Massenmord, Folter, unvorstellbare Grausamkeit: Niemand griff ein. Jetzt spricht Europa von der Flüchtlingskrise, von Schleppermafia und Quotenregelung und sucht nach Möglichkeiten, die Hilfesuchenden zu versorgen. Aber die Ursachen der Flucht werden ausgeblendet: ein verrückter Diktator, der schreit: „Entweder ich oder keiner“ — und dabei sein Land in Schutt und Asche legt. Dabei sollte man nie vergessen, dass Syrien Teil eines Kulturraums ist, in dem die Ursprünge aller Zivilisation zu suchen sind, die Anfänge der Schrift, die Anfänge des Christentums. All das ist in den letzten Jahren unwiederbringlich zerstört worden. Es ist nicht ein Land, das hier mutwillig geopfert wurde, sondern das kulturelle Erbe der ganzen Welt. Wen das kalt lässt, dem ist nicht zu helfen.
Inzwischen gilt das Interesse des Westens weniger Assad als dem „Islamischen Staat“ (IS), der große Teile des Landes kontrolliert.
Al-Jarrah: Der IS ist einer der grausamsten Treppenwitze der Weltgeschichte. Er ist ein Produkt der westlichen Politik, oder genauer gesagt ein Produkt des Versagens dieser Politik. Wenn ich jetzt höre, dass ausgerechnet Assad, ein Massenmörder, als Kämpfer gegen die fundamentalistischen IS-Mörder stark gemacht werden soll, nachdem man davor nichts dagegen getan hat, dass der IS stark geworden ist, kann ich nur sagen: Diese Situation ist ebenso absurd wie mörderisch, eine Schande. Und niemand, der derzeit an der Macht ist, scheint gewillt, etwas dagegen zu tun. Dass währenddessen ein ganzes Volk ausgelöscht wird, ist dabei egal.
Wie erklären Sie sich das?
Al-Jarrah: Wie soll man diese höllische Logik jenseits aller Menschlichkeit erklären? Ich bin Dichter, kein Politiker. Ich kann versuchen, Worte für den Schmerz zu finden, den ich empfinde. Aber ich weiß, dass die Poesie schwach ist. Sagen wir es so: Die Mächtigen dieser Welt, die sich gern als Weltpolizisten empfinden, verfolgen ganz offensichtlich andere Interessen. Wie gesagt, wir alle sind im Moment Zeugen einer Tragödie — und mitverantwortlich dafür. Wer die Bilder des zerstörten Aleppo oder jene der zahllosen Flüchtenden sieht, kann nicht so tun, als ginge ihn das nicht an.
Apropos Bilder: Sie haben jene von auf der Flucht gestorbenen Kindern in sozialen Netzwerken veröffentlicht und geteilt. In Europa wird vielerorts darüber diskutiert, ob man das wirklich tun sollte.
Al-Jarrah: Ich habe es mir genau überlegt und bin zum Schluss gekommen, dass man es tun muss. Es ist die Realität und es ist unsere Verantwortung, diese Realität zu sehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir solche Bilder brauchen. Bilder, die das Vergessen unmöglich machen. Das Bild des von Napalm verbrannten Mädchens im Vietnamkrieg, die Schreckensbilder aus den Konzentrationslagern der Nazis. Ich will das jetzt nicht vergleichen, aber ich bin überzeugt davon, dass solche Bilder die Kraft haben, Menschen aufzurütteln. Ich bin mir sicher, dass ich, hätte ich mich solchen Bildern nie ausgesetzt, ein anderer Mensch geworden wäre.
Trotzdem: Es gibt die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung solcher Bilder.
Al-Jarrah: Natürlich gibt es die. Aber letztlich bin ich überzeugt, dass sich unser Umgang mit der Katastrophe dadurch verändert. Auch weil uns jedes Schicksal, das dadurch ein Gesicht bekommt, daran erinnert, dass wir eine Verantwortung für die Tragödie tragen. Wir können nicht mehr so tun, als seien die Krisen dieser Welt weit weg.
Das Gespräch führte Joachim Leitner