Seit fünf Jahren leitet Nouri Al Jarrah ein Forschungszentrum in Abu Dhabi: Er und seine Kollegen stöbern in Bibliotheken auf der ganzen Welt nach alten arabischen Reiseberichten und geben diese neu heraus. Mit ihm sprach Julia Gerlach.
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Seit fünf Jahren leitet Nouri Al Jarrah ein Forschungszentrum in Abu Dhabi: Er und seine Kollegen stöbern in Bibliotheken auf der ganzen Welt nach alten arabischen Reiseberichten und geben diese neu heraus. Mit Nouri Al Jarrah sprach Julia Gerlach.
Nouri Al Jarrah; Foto: Larissa Bender
Hatte schon immer eine Leidenschaft fürs Reisen: der syrische Poet Nouri Al Jarrah
”Jenseits des Horizonts” heißt die Reihe, die schon mehr als 50 Bände umfasst. Es sind Tagebücher, Forschungsberichte, Abenteuergeschichten. Al Jarrah will zeigen, dass die Araber schon immer den Blick über den Tellerrand riskiert haben.
Herr Jarrah, was ist ihr Ziel mit diesem Projekt? Im 19. Jahrhundert folgte ja auf die Zeit der Reisen das Zeitalter der Reformen. Wollen Sie daran anknüpfen?
Nouri Al Jarrah: Natürlich hoffen wir, die Gesellschaft ein wenig aufzuklären. Das ist dringend notwendig. Die Reisenden – viele von ihnen besuchten Europa – stellten sich Fragen, die bis heute aktuell sind. Was unterscheidet den Westen von der arabischen Welt? Was müssen wir tun, um aufzuholen? Was wollen wir vom Westen übernehmen und was nicht? Die Berichte zeigen auch, dass bis vor kurzem die meisten Araber den Westen bewundert haben. Erst im 20. Jahrhundert hat sich das geändert.
Die Leser sollen sehen: Soweit waren wir schon einmal?
Al Jarrah: Ja, und noch wichtiger ist, dass wir das Individuum in den Mittelpunkt stellen. Es sind ja sehr subjektive Berichte, die wir hier wieder auflegen. Ein Mensch mit zwei Augen hat seine Sicht der Dinge aufgeschrieben. Dieser Ansatz ist in den letzten Jahrzehnten in der arabischen Welt nicht sehr populär gewesen. Da stand doch mehr die Nation, das Volk oder auch die Familie im Mittelpunkt. Das Individuum spielt da keine so große Rolle. Nur wenn wir das Individuum in den Mittelpunkt stellen, wird sich etwas verändern.
Sie haben gerade das Tagebuch eines arabischen Gelehrten herausgegeben, der Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland gereist ist. Wie hat es dem Reisenden bei uns gefallen?
Al Jarrah: Hassan Taufik al Idl ist im Jahre 1889 von Berlin über Westfalen, Köln, Frankfurt, durch die Schweiz und dann weiter über Leipzig und zurück nach Berlin gefahren und hat genau beschrieben, was er erlebt hat. Deutschland war für die Reisenden dieser Zeit ein eher exotisches Reiseland.
Viele reisten nach Paris und London. Diese Städte galten als Orte des Fortschritts, und viele der Reisenden, die im 19. Jahrhundert nach Europa kamen – also nachdem Napoleon die arabische Welt durch seine Landung in Ägypten aufgeschreckt hatte – kamen, weil sie herausfinden wollten, wieso Europa so fortschrittlich ist. Nach Deutschland machten sie allerdings höchstens einen Abstecher.
Deutschland galt als langweilig und unterentwickelt?
Al Jarrah: Das würde ich so nicht sagen. Die Menschen bewunderten Frankreich und England für ihren Fortschritt. Zu der Bewunderung kam spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Verachtung für die Kolonisatoren. Für Deutschland empfand man hingegen Sympathie, und man darf nicht vergessen, wie wichtig die deutsche Geistesgeschichte für die arabische Welt war.
Goethes Diwan zum Beispiel. Viele haben noch in meiner Generation die Bücher von Brockelmann gelesen, wenn sie die arabische Geschichte verstehen wollten. Die französischen und britischen Orientalisten betrachtete man von jeher misstrauisch. Sie erforschten den Orient, weil sie ihn beherrschen wollten. Den Deutschen hingegen glaubte man eher ihr ehrliches wissenschaftliches Interesse. Unser Reisender, Hassan Taufiq Al Idl, unterrichtete übrigens eine Zeitlang Arabisch in Berlin. Er unterrichtete genau diese Orientalisten.
Aber er war doch nicht der erste arabische Reisende nach Deutschland. Es gab auch den Bericht von Ibn Yacoub und natürlich auch Ibn Fadlan …
Al Jarrah: Das sind die Berichte der alten Reisenden, die in den ersten Jahrhunderten des Islam aufbrachen. Damals befand sich die arabische Welt in ihrer Blütezeit, und in Europa – das muss man einfach so sagen – war es mit dem Fortschritt noch nicht so weit her.
Die Berichte der alten Reisenden geben wir jetzt auch neu heraus. Mich persönlich interessieren die Erlebnisse der Reisenden der Neuzeit jedoch mehr. Es gibt ungefähr 300 Berichte von arabischen Reisenden, die im 19. Jahrhundert die Welt erkundet haben. Viele davon reisten nach Europa. Es waren Gelehrte, die von ihren Regierungen geschickt wurden, aber auch Geschäftsleute und die ersten Touristen.
Aber findet man nicht bei ihnen auch viele Klischees wieder? Scheich Rifaat al Tahtawi, der 1832 nach Paris reiste, arbeitet sich doch an genau den gleichen Themen ab: Werte, Moral und Körperpflege. Und das Bild der Frauen. Man findet in diesen frühen Reiseberichten viele Klischees über den Westen, die bis heute in den Köpfen der Menschen einen Platz haben. Dass westliche Frauen leicht zu haben sind, zum Beispiel.
Al Jarrah: Nein, da habe ich eine andere Meinung. Wer kennt denn die Berichte der alten Reisenden? Ibn Batuta ist vielleicht noch ein Name, den normal gebildete Araber kennen. Oder Rifaat Al Tahtawi, aber dann hört es doch schon auf.
Wir versuchen, diese Berichte durch unser Projekt erst wieder in das Bewusstsein der Menschen zurückzubringen. Sie sind Teil unserer Geschichte und ein besonders interessanter Teil. Es zeigt doch, dass es einmal eine Zeit gab, wo wir uns ähnliche Fragen stellten wie heute und wo wir die Antworten suchten, indem wir verreisten. Daran wollen wir anknüpfen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Klischees über die Europäer über die Reiseberichte vermittelt wurden. Wenn Sie mich fragen: Stars wie Britney Spears tragen sehr viel stärker dazu bei, dass die Menschen in der arabischen Welt glauben, dass die westlichen Frauen leicht zu haben sind, als alle Reiseberichte zusammen. Viele sind ja losgereist, weil sie in Europa erfahren wollten, was das Geheimnis des westlichen Fortschritts ist. Manche machen die unterschiedliche Stellung der Frau dafür verantwortlich.
Wie ist ihr Projekt “Jenseits des Horizonts” entstanden? Wer finanziert es?
Al Jarrah: Ich habe schon immer eine Leidenschaft für Reiseberichte gehabt und dem Initiator dieses Projekts, dem emiratischen Intellektuellen und Geschäftsmann Mohammed Ahmed Al Suwaidi ging es ähnlich. Er hat mich dann gefragt, ob ich dieses Zentrum aufbauen möchte. Das war vor fünf Jahren. Jetzt haben wir schon gut fünfzig Bände herausgegeben.
Woher stammen die Manuskripte?
Al Jarrah: Wir waren in Bibliotheken in der ganzen Region, in Teheran, Kairo, auch in London. In Bagdad war ich kurz vor dem Krieg. Zum Glück. Die Bibliothek wurde inzwischen zerstört. Auch in Deutschland habe ich Bibliotheken besucht. Wir gehen die Manuskripte durch und versehen sie mit Fußnoten.
Zusätzlich veranstalten wir Tagungen, und seit kurzem schicken wir auch arabische Schriftsteller los, die Welt zu erkunden und uns einen Bericht schreiben. So ist Mohammed al Harithi gerade aus Indien zurückgekommen. Es gibt ja auch noch spannende Länder jenseits von Europa, in denen wir etwas lernen können.
Gibt es ein Fazit aus ihrem Studium der vielen Berichte?
Al Jarrah: Jeder Bericht steht für sich, aber insgesamt kann man vielleicht sagen, dass die arabischen Reisenden dem Westen sehr positiv gegenüber standen. Sie fühlten sich Europa sehr verbunden. Erst die Doppelmoral und die Machtpolitik des Westens hat sie abgeschreckt.
Das unterscheidet übrigens die arabischen Reisenden von den europäischen. Trotz aller Orientbegeisterung zeichneten die europäischen Reisenden ein eher negatives und auf jeden Fall sehr klischeebehaftetes Bild von der arabischen Welt. Der Reisebericht von Flaubert aus Ägypten, strotzt doch nur so von Klischees und Unwahrheiten.
Gibt es denn, vergleichbar mit diesem Orientalismus, einen Okzidentalismus? In Europa spricht man derzeit viel darüber: Die Darstellung Europas in den Augen seiner Feinde.
Al Jarrah: Das ist Unsinn. Der Orientalismus ist ein Gedankengebäude, ein Konzept, das darauf ausgerichtet ist, den Orient zu beherrschen. Vielleicht gibt es auch bei den Arabern Klischeevorstellungen über den Westen, sicherlich auch bei den alten Reisenden, aber ihnen fehlt die Theorie, das Herrschaftssystem, um ein Okzidentalismus zu sein.
Interview: Julia Gerlach
© Qantara.de 2005
Qantara.de
Dossier: Reisen durch Jahrhunderte und Kontinente
Abenteuerlust, Wissensdrang oder Exotik – all das können Gründe für eine Reise in ferne Länder sein. Schon immer brachen Frauen und Männer in den Orient oder nach Europa auf. Der eine fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt, der andere entdeckt seine Liebe zum Unbekannten.
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Datum: 14.09.2005
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