Grenzüberschreitende Reflektionen über ältere und neue Literaturen der Flucht und des Exils
Von dem Orientalist: Stephan Milich
(Abwab 2018)
TEIL I
Anfang der 1960er Jahre änderte sich diepalästinensische Literatur grundlegend. Ghassan Kanafani hatte seinen Kurzroman Männer in der Sonne (Riğāl fī š-shams, 1962/63) veröffentlicht, der im Jahr 1958 spielt, zehn Jahre nach der Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat. Der Roman – vielleicht das erste Werk der Weltliteratur, in der die grauenhafte Tragik postmoderner Flucht eine ausreichend drastische Ausdrucksform findet – spielt in Palästina, Jordanien, dem Irak und Kuwait und erzählt die Geschichte von vier Männern.
Drei der Männer, die jeweils unterschiedliche Generationen repräsentieren, verlassen aus unterschiedlichen Motiven ihre verlorene Heimat, um in Kuweit ihr Glück zu versuchen – für alle aber bleibt nur die Flucht nach vorne, in die Ungewissheit der Fremde. Der Weg führt alle drei in Basra, im Südirak, zusammen, wo sie einem vierten Palästinenser, der als Lastwagenfahrer für einen reichen Kuweiti arbeitet, begegnen. Dieser bietet ihnen an, sie über die Grenze ins „gelobte Land“ Kuweit zu schmuggeln. Tragischerweise ist dessen Idee, sie bei großer Hitze im leeren Wassertank des Lasters zu transportieren, nicht sehr erfolgversprechend. Weil die kuweitischen Grenzbeamten den Fahrer an der zweiten Grenze mit Witzen und Beleidigungen aufziehen und dieser somit zu viel Zeit verliert, findet der Fahrer nur noch drei austrocknete Leiber im Bauch des Lastwagens, die er schließlich – nicht ohne ihnen zuvor Uhr und Geld abgenommen zu haben – auf die städtische Mülldeponie seiner neuen Heimatgemeinde in Kuweit ‚wirft‘.
Im ersten arabisch-israelischen Krieg durch eine Explosion stark traumatisiert, wird der Fahrer durch das Begehen dieser Tat, deren ganzes Ausmaß ihm erst nachträglich bewusst wird, ein zweites Mal traumatisiert – dieses Mal wohl unüberwindbar! während er 1948 durch die Explosion seine Männlichkeit verlor und damit Opfer des Krieges war, ist er mit dieser neuen Tat als Menschenschmuggler, der die Leichen auf den Müllberg wirft, zum Täter geworden, dessen Trauma in der Schuld am Tod dreier Landsleute besteht. So gesehen ist sein Schrei „Warum habt ihr nicht gegen die Tankwand des Lasters geklopft?“, ein zum Scheitern verurteilter Versuch, die Schuld von sich zu weisen. In seinem tiefsten Innern weiß er von seiner Schuld, und mit dieser Wunde wird er nun weiterleben müssen.
Die Verfilmung des Romans von 1972 vom ägyptischen Regisseur Tewfik Saleh lässt den Film mit den letzten Versen eines frühen Gedichts von Mahmud Darwisch enden: „Einst sprach mein Vater/ Wer keine Heimat hat/ findet kein Grab in der Erde/ Und er verbot mir zu reisen.“ Ausharren in der Heimat ist besser als ein elender Tod im Exil, so die leicht zu entnehmende Botschaft von Film und Roman, der mit seinen zahlreichen Rückblenden, seiner polyphonen Erzählperspektive und schlichten, doch poetischen Sprache zurecht als ein Meisterstück modernistischer Erzählliteratur gilt. Was spätestens im Zweiten Weltkrieg begann und sich unmittelbar darauf fortsetzte, wurde ‚System‘ in unserer Welt. 50 Jahre später hat ein irakischer Prosaautor, Hassan Balasim, diese Geschichte neu geschrieben und sie nach Europa verlagert, wo sich heute ähnliche Dramen abspielen.
In seiner Erzählung Der Lastwagen nach Berlin (aš-šāḥina ilā Birlīn), wie auch schon Männer in der Sonne ins Deutsche übersetzt von Hartmut Fähndrich, sterben allerdings über dreißig junge Männer, Iraker, die von den Schleppern im verschlossenen Laster im ungarischen Nirgendwo zurückgelassen werden, um zu verdursten. Erinnert man sich dann an die Flüchtlingstragödie im österreichischen Parndorf im ‚Krisenjahr‘ 2015, bei der 71 Flüchtlinge ums Leben kamen, dann versteht man, dass Literatur sehr direkt Bezug auf unsere Wirklichkeit nehmen kann, auch wenn wir niemals erfahren, wie es ist, in einem Kühllaster nach Tagen zu Tode zu kommen – wenn wir nicht zufällig als Iraker, Syrer oder Angehörige anderer Nationen geboren sind, deren Staatsangehörige flüchten, um zu überleben. Aber wie stabil und sicher ist dieses „Wir“ und welches „Wir“ kann hier überhaupt gemeint sein?
Dass Literatur sich unter den Bedingungen von Flucht und Heimatverlust grundsätzlich wandelt, behauptete bereits vor über 70 Jahren der deutsch-jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger. So wie das Exil zum Verstummen führen könne, könne es auch zur Triebfeder des Schreibens werden. Feuchtwanger sagte 1943 in seinem Vortrag Arbeitsprobleme eines Schriftstellers im Exil:
Das Exil ist kein zufälliger Nebenumstand, es ist die Quelle dieser Werke. Nicht die Stoffe dieser Dichter haben sich verändert durch ihre Verbannung, sondern ihr Wesen.
In bestimmten Lebenssituationen wie dem Verlust eines geliebten Menschen, im Krieg, bei politischer Verfolgung, Gefängnis und Folter und eben auch bei Flucht und Exil zwängt sich die Realität auf eine totalere, kompromisslosere Art und Weise in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen hinein. Die konkrete Exilerfahrung ist dann oft nicht nur Inhalt und Thema der Dichtung, sondern ihr „konstitutives Moment“, wie Elisabeth Bronfen in einem Aufsatz über das metaphorische und das biographische Exil bemerkte. Was aber ist genau mit verändertem „Wesen“ und mit der Bezeichnung „konstitutives Moment“ gemeint? Der in Deutschland lebende syrische Autor Ibrahim aljabin bringt dies zu Beginn seines Romans Das Auge des Ostens (ʿAin aš-šarq) von 2016 so zum Ausdruck:
Alles ist aufs Stärkste mit der Umgebung verbunden, wie sehr man auch versuchen mag, sich seinem Kontext zu entreißen; und wie sehr man auch denkt, dass der Kontext im Grunde gar kein Kontext ist. Ich glaube daran, dass der Flusslauf tatsächlich der Flusslauf ist, und dass jede Messerscheide, jeder Messerstich, jede Feder, jedes Zittern einer Saite, das bislang passierte, in der Erschaffung dieses Augenblicks mitwirkte, in dem wir uns heute befinden. Vor diesem „heute“ jedoch bin ich nach Damaskus zurückgekehrt und blieb dort verhaftet, gefangen in seinen Welten. (al-Dschabin 2016, 11)
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Vergleicht man ältere mit Texten neuerer Exilliteratur, wird man einige Ähnlichkeiten feststellen, die eine menschliche Grundkonstante zu bilden scheinen: so z. B. eine dialektische Struktur der Texte, die sich aus dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Heimat und Exil, zwischen An- und Abwesenheit ergibt; die Bemühung, literarisch den Verlust und die Leere in der Sprache wettzumachen; ‚Bewertungen‘, die sich zwischen den beiden Polen „Elend“ und „Lob des Exils“ bewegen; und der Bezug auf die Bildersprache der Reise, des Aufbruchs und des Ankommens bzw. der Rückkehr. Exil, Vertreibung und Flucht sind zunächst Erfahrungen, die man zwangsweise und nicht selbst erwählt unter radikal veränderten Lebensbedingungen macht.
Mit dem Wandel der Lebensbedingungen und damit des „Wesens“ der Literatur ändert sich auch die Funktion, die literarisches Schreiben erfüllt: So lässt sich manche Literatur von Flucht und Exil als Versuch lesen, die verlorene, zerbrochene und vielleicht sogar völlig zerstörte Welt, die man zurücklassen musste, wieder zusammenzufügen und heil zu machen. Ein klassisches Motiv der Moderne ist dabei, ein „portatives Heimatland“ (Heine), ein Land aus Worten, lebendigen Geschichten, Figuren, bewegten Bildern, Geräuschen und Gerüchen zu erschaffen, wenn das reale Land nicht mehr existiert, wie beim palästinensischen Dichter Mahmud Darwisch – bisweilen mit Bezug zur Kindheit als Quelle der Kraft und der eigenen Person, wie beim Iraker Saadi Yusuf.
Eine weitere Funktion, die die Literatur nach der Flucht auszuüben vermag, ist eine dokumentarische: entweder 1) im Sinne eines Dokumentierens und Bezeugens des gerade Geschehen, um es vor dem Vergessen zu bewahren und in seiner schrecklichen Fülle zu konservieren, oder 2) die Selbstdokumentation, die Selbstbeobachtung: was geschieht mit mir unter diesen Lebensbedingungen, wie verändere ich mich, „Wer war ich?“ und „Wer bin jetzt?“ und „Wer werde ich sein?“ – weshalb Exilliteratur oft deutlich autobiographischere Züge trägt.
Häufig wird das Fragen darin zum dominanten Sprech- bzw. Schreibmodus, wie in weiten Teilen der zeitgenössischen arabischen Exillyrik zu sehen ist, und die Fragen des Fremden erlauben dann ein Hinterfragen des Eigenen, wenn die Menschen in der Aufnahmegesellschaft offen für ein solches Hinterfragen des Eigenen sind. Während sich die erste Variante des Dokumentarischen der Zeugenschaft und damit dem Anspruch verschreibt, die Wahrheit aufzudecken, der Wahrheit verpflichtet ist, oft gegen die Lügen eines Regimes, psychologisiert die zweite Variante die eigene Person und die Welt, um zu verstehen und tiefer in die schwer fassbaren Veränderungen einzudringen. Die aus Kobane stammende und jetzt in Berlin wohnende syrische Autorin Widad Nabi formuliert die erste Funktion des Bezeugens im Anklang an Walter Benjamin folgendermaßen:
“Ich wollte an das Wunder glauben, dass das Schreiben den Vergessenen und Getöteten zu Gerechtigkeit verhilft, die ihnen das Leben nicht gewährt hat. Wir schreiben heute über den Tod und den Krieg, damit die Geschichten derjenigen, die gestorben sind, vor dem Vergessen bewahrt werden. […] Jemand muss über diese große Schande berichten.“ (Übers. L. Bender)
Dies würde, weiter mit Walter Benjamin gesprochen, auch heißen, die Toten, die Märtyrer vor der Instrumentalisierung durch den Feind, den Staat, zu bewahren. Benjamin, der sich 1940 im Grenzort Portbou das Leben nahm, schrieb:
Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört. (Benjamin Thesen VI)
Angesichts der in den arabischen Diktaturen vielleicht noch mehr als die Künste zensierten Wissenschaft sind es bisweilen LiteratInnen und KünstlerInnen, die die Aufgabe der Geschichtsschreibung übernehmen (müssen). Und während die Historiografie keinen toten Menschen aus dem Grabe steigen lassen kann, kann dies zumindest die poetische Imagination, auch wenn sie nie Wirklichkeit werden kann – man denke an Celans Verse „es komme, was niemals noch war! / Es komme ein Mensch aus dem Grabe.“ (Celan, das Gedicht „Spät und Tief“, 36) Oft sind diese beiden Funktionen von Literatur zugleich gegenwärtig, wie in Benjamins Satz: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“ Das Zerstörte wieder lebendig machen und zugleich zusammenfügen!
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